Spargelmord

Leseprobe

Spargelmord Leseprobe - Der prickelnde Krimi von Manfred Krämer

... Dann hatte er das Glashaus fast erreicht. In der nassglänzenden Fläche vor ihm erkannte er sein verzerrtes Spiegelbild und hinter sich die Lichterflut des unerbittlich näherkommenden Schleppers. Ein Bild wie aus einem Alptraum. Tarzan rannte an der Rückfront des Gewächshauses entlang, suchte verzweifelt einen Eingang. Das Motorengeräusch marterte seine Trommelfelle, der Kerl musste direkt hinter ihm sein! Dann quietschten die Bremsen, der Motor lief im Leerlauf. Tarzan wusste, der Killer machte sich wieder schussbereit. Bei dieser kurzen Distanz würde es ein Gnadenschuss sein. Tarzan spürte ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern, zog den Kopf ein, als würde das etwas nützen und stürzte durch die Tür, die er sekundenbruchteile vor dem Schuss erreichte. Er schmetterte sie zu und schleppte sich weiter. Die Kräfte schwanden, die Schmerzen tobten, er fürchtete, sich erbrechen zu müssen. Er schaute nach vorne, vertrieb die Nebelschleier vor seinen geröteten Augen. Der Anblick war spektakulär und erinnerte ihn ein wenig an die Sequenz aus 2001-Odyssee im Weltraum von Stanley Kubrick, als die Kamera durch einen endlosen Tunnel aus Laserbahnen zu fliegen schien. Weit voraus schienen sich die Tragwerke und das Glasdach mit dem Boden zu vereinigen. Tomaten wuchsen ordentlich aufgereiht wie chinesische Soldaten bei einer Parade. Tarzan erkannte sofort, seinen Vorteil. Die parallelen Tomatenstauden boten einigermaßen Sichtschutz. Zwischen Ihnen konnte er hin und herwechseln und versuchen das andere Ende der Halle ungeschoren zu erreichen. Dort verlief die Straße zum Boxheimerhof und dahinter lag nur noch ein Feld, das von der Bahnstrecke Mannheim-Frankfurt begrenzt wurde. Vielleicht hatte er ja Glück und ein Fahrzeug war gerade auf der Straße unterwegs. Neue Hoffnung rührte sich in ihm und verlieh ihm neue Kraft.

Der Motor des großen Fendt brüllte wieder auf. Tarzan wechselte zwei Gänge nach rechts und begann langsam und gleichmäßig zwischen den Tomatenstauden zu traben. Als er kurz den Kopf drehte, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen.

Der Schlepper kam in voller Fahrt direkt auf das Gewächshaus zu. Mit der hochgereckten Ladeschaufel erinnerte die Maschine an einen Tyrannosaurus. Einen übellaunigen, der seine Beute nicht entwischen lassen wollte.

Als der fast 11 Tonnen schwere Fendt durch die Glasfront brach, stockte Tarzan für einen Moment der Atem. Ein apokalyptischer Lärm entstand, als die dicken Glasscheiben barsten, das Metall der Tragkonstruktion verbogen und zerrissen wurde und der Schlepper mit brüllendem Triebwerk und wild rotierenden Reifen, Reste der Aluminiumträger mit sich reißend, in einem Regen aus flirrenden Glasscherben in das Gebäude eindrang.

Tarzan rannte los als sei der Teufel selbst hinter ihm her und irgendwie schien das auch so zu sein. Egal, wer sein Jäger sein mochte. Der Kerl war komplett durchgedreht. Tarzan wusste, der Mann am Steuer des Fendt wollte seinen Tod. Um jeden Preis!

Das höllische Krachen und Bersten hinter ihm, vermischt mit dem Pfeifen des Turboladers und dem mit Vollgas laufenden Sechszylindermotor verlieh ihm Flügel und schien doch unerbittlich näher zu kommen. Dann ein besonders hässliches Rumpeln, gefolgt von gequältem Aufheulen überforderter Antriebselemente. Tarzan warf einen Blick zurück. Was er sah, ließ freudige Erregung in ihm aufsteigen: der Schlepper, der eine breite Schneise der Verwüstung durch die riesige Halle gezogen hatte, war mit der hochgereckten Ladeschaufel an einem der starken Querträger hängengeblieben. Durch den Vortrieb hatte sich das Fahrzeug vorne gehoben. Die Hydraulik der Schaufel war beschädigt, aus einer der Zuleitungen schoss das Öl in fingerdickem Strahl heraus. Der Fahrer versuchte die Schaufel zu bewegen, doch die Systeme gehorchten ihm nicht. Tarzan nutzte die Gunst des Augenblicks und trabte weiter auf den Ausgang an der anderen Seite zu.

Doch dann heulte der Motor hinter ihm wieder auf. Der Fahrer hatte den Rückwärtsgang eingelegt und die mannshohen überbreiten Traktionsreifen gruben sich in den Boden. Es roch nach Abgasen, heißem Öl und verbranntem Kupplungsbelag, doch das Manöver hatte Erfolg. Mit einem explosionsartigen Krachen riss das gewaltige Drehmoment des Schleppers, die verkeilte Ladeschaufel aus dem Deckenträger. Dieser wurde aus seinen Halterungen gerissen und stürzte polternd, weitere Scheiben des Daches mit in die Tiefe reißend, zu Boden. Der Fendt schwang auf seinen Niederdruckreifen auf und ab. Die Frontscheibe war voller Sprünge, die Hälfte der Lampen abgerissen oder zersplittert, die vorderen Kotflügel grotesk verformt, der ehemals elegant geschwungene Kühlergrill ein Wust aus geborstenem Plastik.

Der Fahrer gab Gas. Die Tomatenpflanzen knickten unter den wuchtigen Reifen wie Zahnstocher, das Licht der verbliebenen Scheinwerfer brannte auf Tarzans Rücken wie tausend Sonnen, während er mehr taumelte als lief, den Mund weit aufgerissen, die Lungen gierig auf jedes Quäntchen Sauerstoff, die Muskeln von Krämpfen geschüttelt, der ganze Körper eine Orgie aus Schmerzen. Da: endlich! Der Ausgang! Ein Rest rationalen Denkens hatte sich in Tarzans, fast völlig der Panik verfallenem Gehirn gehalten. Was hast du davon? Schrie es in ihm. Was glaubst du, was dir der Ausgang jetzt noch nützt?

Tarzan ignorierte es. Die Alternative hieß, sich dem heranstürmenden Schlepper und seinem wahnsinnigen Fahrer zu stellen. Er torkelte durch die Tür, fühlte den glatten Asphaltbelag der Straße unter seinen Füßen und sah in höchstens 150 Metern Entfernung einen Zug der S-Bahn Rhein-Neckar in Richtung Bürstadt rollen. Im Westen riss die schwarze Wolkendecke auf und ließ goldenes Sonnenlicht in streng umrissenen Bahnen hindurch wie Bühnenlicht. Aus Richtung Frankfurt näherte sich ein Güterzug, er war noch weit weg, das Tempo eher mäßig.

Tarzan flackerten die zahllosen Filmszenen durch den Kopf, in denen flüchtige Verbrecher kurz vor einem Zug noch die Gleise überqueren und den Verfolgern eine lange Nase drehen. Niemals hätte er gedacht, dass er selbst einmal in einer ähnlichen Situation stecken könnte. Mit einem kleinen Unterschied: er war der Gute. Der Böse grub sich gerade durch das bereits halb eingestürzte Großgewächshaus.

Tarzan rannte los. Er wunderte sich über seine Energiereserven. Wenn er das hier überlebte, dann würde er im Juni am Spargellauf teilnehmen. So wie er heute lief, wurde er garantiert Erster. Solch verrückte Gedanken blitzten in seinem Kopf auf, während ein Mörder hinter ihm her war.

Der Güterzug kam näher. Ein langer Zug aus Kesselwagen. Tarzan hatte etwa die Hälfte des Weges zu den Gleisen geschafft, als der Schlepper die Vordere Wand des Gewächshauses durchbrach. Einen grotesk verformten Gitterträger, der sich zwischen dem Hubgestänge verklemmt hatte, wie ein erhobenes Schwert vor sich her tragend stoppte das Fahrzeug auf der Straße. Der Suchscheinwerfer wurde hin und her gedreht und Tarzan, der den brachliegenden Acker fast durchquert hatte, schlug Haken um dem unerbittlichen Lichtstrahl zu entgehen. Kurz beleuchtete der Scheinwerfer ein kleines Spargelhaus mit Pultdach, drüben an der Straße zur Gärtnersiedlung. Daneben der Trümmerhaufen unter dem sie vor fast zwei Wochen den Geiers Hansi herausgezogen hatten. Hansi hatte es überlebt. Für Tarzan sah es nicht so gut aus. Scharf zeichnete sich sein Schatten auf dem grasbewachsenen Boden vor ihm ab, als ihn der Lichtstrahl einfing. Von nun ab gab es kein Entrinnen mehr.

Der Zug kam näher. Deutlich konnte Tarzan die drei Lampen an der Lokomotive erkennen. Zwei schwere E-Loks, Doppeltraktion. Das Scheppern und Klirren der Kesselwagen übertönte mittlerweile den Lärm des Schleppers.

Tarzan hatte nur noch ein paar Schritte, aber seine Beine schienen sich aufzulösen, wurden weich, gehorchten ihm nicht mehr.

Das grelle Pfeifen der Lokomotive fuhr ihm durch Mark und Bein. Der Lokführer hatte die Person im Licht des Suchscheinwerfers natürlich gesehen und gab vorsorglich ein Warnsignal. Das letzte Mikrogramm Adrenalin, dass Tarzans Nebennierenmark noch in seinen Kreislauf presste schaffte es, das ihn seine Beine auf den Gleiskörper schleppten, wo er mit der Schuhspitze am Gleis hängenblieb und wenige Meter vor dem mittlerweile gellend pfeifenden Zug der Länge nach hinschlug.

Der Mann im Führerhaus des verbeulten Schleppers schloss die Augen während der Güterzug mit kreischenden Bremsen funkensprühend an ihm vorbeirollte. Es war vorbei. Für sein Opfer und für ihn selbst. Die Jagd ist um. Das Horn ertönt. Hase tot …

Als der Schlusswagen des Zuges wenige hundert Meter weiter endlich zum Stillstand kam, legte sich die kräftige Hand des Mannes auf den Wählhebel für die Fahrstufen. Er drückte ihn nach vorne, ein kurzes Rucken zeigte ihm an, dass Kraftschluss hergestellt worden war, dann nahm er den Fuß von der Bremse und rollte auf die Gleise.

Er war auf einen schlimmen Anblick vorbereitet. Eisenbahnleichen waren grässlich. Einmal hatte sich ein Selbstmörder vor seinen Augen vom Bahnsteig gestürzt. Das war vor über 30 Jahren gewesen. Niemals würde er das Schleifen, Mahlen und Krachen vergessen, als der Körper in den gnadenlosen Fleischwolf der Fahrwerke geriet. Fast zwanghaft suchten seine Augen das Gleisbett ab. Es hatte aufgehört zu regnen. Das Gewitter war nach Südosten abgezogen, tobte sich in Richtung Viernheim aus. Die Bewölkung bekam immer mehr Löcher, die tiefstehende Abendsonne schuf ein warmes goldenes Licht.

Der Körper lag zwischen den beiden Gleisen im Schotter. Ein Schuh fehlte. Der nackte Fuß stach seltsam weiß von seiner Umgebung ab. Blut … am Fuß, an den Händen, im Gesicht … Das furchtbarste aber waren die Augen: mit einem Ausdruck maßloser Verblüffung starrten sie ihn an. Ein seltsamer Laut kam aus dem offenstehenden Mund. Dunkel, rau, unartikuliert zunächst, dann, zwischen pfeifenden Atemstößen besser zu verstehen: „Du !?!

..... wer wird als nächstes sterben ..... ?

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