„Genosse Kommandant, es lebe der 1. Mai!“

Leseprobe

Die Zeit

Paul wusste sehr früh, dass er in einer schweren Zeit lebte. Man hatte es schon dem kleinen Jungen immer wieder gesagt, und es war ihm auch selbst manchmal so vorgekommen, wenn er etwa zum Frühstück Graupensuppe essen sollte, mit langen Spelzen, die hart in den Gaumen stachen. Meistens staunte er über die Zeit, zwar erschien sie ihm oft aberwitzig, aber nie verworren. Er und die Mutter hatten ja den Beweis, dass er es mit der Zeit würde aufnehmen können. Davon durfte der Vater nichts wissen, hätte über Frau und Sohn gespottet, ihren Unverstand beklagt. Und doch hätten beide an ihrem Beweis festgehalten, die Mutter aus Überzeugung, wohl auch mit einer Prise Aberglauben vermischt. Und Paul? Er erzählt zwar nur augenzwinkernd von diesem Beweis, aber man weiß bei ihm nie, wie er es meint. Jedenfalls erinnert er sich noch genau des Ereignisses.

Der Vater war schon lange krank, befand sich wieder einmal im Sanatorium, die Mutter mutlos, trostlos die Zukunft. Paul wird neun oder zehn Jahre alt gewesen sein, als eines Tages eine Kartenlegerin ins Haus kam. Eine Nachbarin hatte sie empfohlen. Sie fand sich bereit, für nur eine Mark aus den Karten die Zukunft vorauszusagen. Paul saß in einer Ecke des Wohnzimmers und beobachtete das Treiben der Frau mit neugierigem Interesse.
Aus einer geräumigen schwarzen Kunstledereinkaufstasche, wie sie in jenen Zeiten viele Frauen mit sich führten, um unvorhergesehen ergatterte Kostbarkeiten darin zu verwahren und sie den Blicken der weniger Glücklichen zu entziehen, aus einer solchen Tasche also zog sie ein Spiel Karten heraus, mischte sie mit ungeheurer Fixigkeit in ihren kleinen weißen Händen und legte den Stapel vor die Mutter hin. Dann fasste sie sie vertraulich am Arm und forderte sie auf, die Karten zu mehreren Häufchen zu verteilen. Die Mutter tat es. Nach einem kurzen Blick auf die Karten lehnte sich die Kartenlegerin erst einmal zufrieden im Stuhl zurück und blickte die Mutter freundlich an. Paul hatte sofort das Gefühl, alles sei irgendwie geregelt, wenn man die Frau nur gewähren ließe. Ein Blick auf die Mutter beruhigte ihn noch mehr. Sie hielt den Blick nicht mehr gesenkt, forschte auch nicht ängstlich in den Mienen der Kartenlegerin, wie sie es bei deren Eintreten getan hatte, und, was Paul am meisten erstaunte, seine zierliche, gepflegte Mutter ließ sich sogar von der ziemlich dicken, etwas schmuddeligen Frau die Hand tätscheln! So überraschte es ihn nicht weiter, als er die Frau sagen hörte: „Ich glaube, Sie brauchen nicht mehr so viel Angst zu haben wie bisher. Ich sehe aus den Karten, dass Sie sich zurzeit viele Sorgen um Ihren Mann machen. Er ist weit weg von Ihnen, ich sehe da ein Haus im Wald. Aber er kommt wieder. Es wird ihm bald bessergehen, obwohl Sie noch einiges Schwere mit ihm durchmachen müssen. Er wird zwar einmal vor Ihnen sterben, aber das liegt noch weit von hier.“
Paul wagte beim Wort „sterben“ kaum nach der Mutter hinzusehen. Er hörte sie auch aufseufzen, aber, wie es ihm vorkam, mehr aus Erleichterung. Sie schien ganz beruhigt zu sein. Ja, sie fasste sogar Mut. Sie bat nämlich die Frau, auch für ihren Sohn die Zukunft vorauszusagen. Und nun entging Paul keine Handbewegung mehr und erst recht kein Wort. Er erinnert sich noch heute genau an die Szene. Die Karten wurden zunächst wieder lange und gründlich gemischt. Die Mutter musste es selbst auch noch einmal tun und dann nach einem bestimmten Schema kleine Häufchen bilden, drei in einer Reihe, darunter zwei und dann noch eins. Nun hob die Frau vom ersten Stapel der oberen Reihe, dann vom ersten der zweiten und so fort einzelne Karten ab und legte sie offen nebeneinander. Noch während sie damit beschäftigt war, konnte sie ihre Begeisterung kaum zurückhalten. Sie schlug sich auf die Knie, deutete plötzlich auf eine offensichtlich besonders günstige Konstellation und rief: „Glänzend, glänzend, Ihr Sohn ist wirklich ein Glückskind. Sie brauchen sich um seine Zukunft überhaupt keine Sorgen zu machen, wirklich gar keine! In der Schule und im Beruf wird er Erfolg haben. Und hier, links oben: ein großes Haus in weiter Ferne. Das Haus hat Bedeutung für ihn. Doch auf eines muss ich Sie aufmerksam machen. Er wird sehr, sehr weit von Ihnen weg sein, wirklich sehr weit. Sie können ihn nicht oft sehen. Aber seine Zukunft ist gesichert.“
Paul sah, dass die Mutter vor Glück strahlte. Zwar lief ihr eine Träne über die Wange, was er sich nur damit erklären konnte, dass die prophezeite weite Entfernung daran schuld war, aber er hörte sie erleichtert sagen: „Weit weg wird er sein? Aber das macht doch nichts, wenn’s ihm nur gutgeht! Auf mich kommt’s da wirklich nicht so sehr an, wirklich nicht!“ Und noch einmal seufzte sie. Es schien ihr viel besser zu gehen als vor dem Besuch der Kartenlegerin. Eine einzige Mark, sinnvoll verwendet, hatte das Wunder bewirkt.
Während die Augen der fremden Frau nun interessiert auf Paul, dem Gegenstand ihrer kühnen Voraussagen, ruhten, eilte die Mutter in den Keller, um der Künderin des Glücks ein Glas eingeweckter Pflaumen aus dem Schrebergarten der Großmutter zu holen. Eingemachtes war das Kostbarste, was die Mutter in jener Zeit besaß, und es verschwand schnell in der großen schwarzen Tasche der Frau. So hatte sich der Besuch auch für sie gelohnt. Sie drückte jedenfalls der Mutter beim Abschied lange die Hand und winkte Paul zu sich heran, um ihm über den Kopf zu streichen.
Als sich die Wohnungstür hinter ihr geschlossen hatte, wurde er eindringlich von der Mutter ermahnt, niemandem zu erzählen, dass eine Kartenlegerin im Haus gewesen war. Die Großmutter hätte nur den Kopf geschüttelt: Was konnte wohl eine Kartenlegerin gegen die Zwänge der Zeit ausrichten! Der Vater wäre entsetzt gewesen, denn für ihn lief alles nach Naturgesetzen. Und die Vertreter des noch jungen Staates waren interessiert an der Heranbildung des „neuen Menschen“. Mit Kartenlegerinnen und ihren Kundinnen hatten sie nichts im Sinn, zumal wenn sie Kinder, die hoffnungsvolle Zukunft, in ihren abergläubischen, gemüthaften Sumpf mit hineinzogen. Da musste noch ein schweres Stück Erziehungsarbeit geleistet werden! Doch die Mutter konnte sich auf ihren Paul verlassen, er sagte zu niemandem etwas.

Manchmal erzählt Paul heute davon. Amüsiert deutet er das „große Haus“ und die „weite Entfernung“ und lässt offen, ob er sich erst jetzt, da er sich erfolgreich etabliert hat, an die Kartenlegerin erinnert oder ob ihm in all den Jahren das „große Haus“ als Ziel vor Augen stand. Es muss aber doch etwas von seiner frühen Bekanntschaft mit dem Übersinnlichen an ihm haften geblieben sein, denn er würde sich schon gern einmal von Frauen mit schillernd bunten Röcken aus der Hand lesen lassen. Und hin und wieder liebäugelt er damit, bei Gelegenheit eine österreichische Kartenaufschlägerin – schon das Wort hat es ihm angetan – aufzusuchen, die ihm als gut empfohlen worden ist, was immer das bei diesen Damen sein mag. Aber daran wird er gehindert, es sei nicht mit damals zu vergleichen, entspringe keiner Not, es heiße das Schicksal versuchen. Das akzeptiert er und verschiebt die Pläne, aber sehnsuchtsvolles Seufzen, wenn andere von Erfahrungen mit den Ergründerinnen der Zukunft sprechen, signalisiert: Die Wünsche sind noch offen.

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